Desinformation über Sexarbeit im SWR -Teil 1-

Desinformation über Sexarbeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen?

SWR: Mal ehrlich: Sex gegen Geld – Gehört das verboten? (5.5./22h)

(Teil 1: Minuten 1-30)
(Teil 2: Minuten 31-60)
Am 5.5. um 22h strahlte der SWR die Sendung #malEhrlich: Sex gegen Geld – Gehört das verboten? aus. Moderator Florian Weber leistete dort gezielter Desinformation über Sexarbeit Vorschub. Wie nahezu immer, wenn es um Prostitution in den Medien geht, spielt #falseBalance eine große Rolle. Die Zuschauer*innen dieser Sendung erleben das #PLURV – Prinzip in Anwendung und Wirkung. Schon in der Einleitung wird das greifbar, als Weber die Schlagworte

Bordell Europas | Sextourismus | „Zwangsprostitution“ |Verbot

benutzt.

Anwesend sind: Sandra Norak, Salome Balthus, Julia Wege, John Heer, Manfred Paulus, Leni Breimayer und Judith Skudelny.
Das who-is-who der Anti-Sexarbeits-Bewegung, vernetzt in Politik, Polizei, Soziale Arbeit trifft auf eine Sexarbeiterin, einen Bordellbetreiber und eine mir bislang unbekannte FDP-Politikerin. Das Verhältnis ist 4:3. 4 Personen, die eindeutig die politische Forderung nach einer Welt ohne Prostitution eint, 3 Personen, die sehr unterschiedliche politische Agenden haben dürften.
Übrigens kenne ich Personen, die bei diesem Format nicht dabei sein wollten, da sie schädliche Desinformation über Sexarbeitende nicht unterstützen wollten. Verständlich aber, dass Balthus und Heer und vielleicht auch Skudelny die Anti-Sexarbeit-Bewegung nicht ohne Widerspruch ihre Narrative pflegen lassen möchte.

Schon jetzt ist klar, der Titel der Sendung ist verfehlt. Er sollte lauten: #malEhrlich, öffentlich-rechtliche Medien, wieviel #false Balance und Desinformation passt in eine Sendung? Und wie oft müssen Sexarbeitende das noch kritisieren, bis sie gehört werden?

Wie genau funktioniert die Verbreitung von Desinformation?
Deswegen schaue ich hier genau auf Redeanteile, Argumente, Überleitungen und Gewichtungen.
Als Erste befragt Weber 9 Minuten (bereits 15% von der Gesamtsendezeit) lang Sandra Norack nach ihrem Schicksal als Betroffene der Loverboy-Methode. Ihr und allen Betroffenen von toxischen, manipulativen Beziehungen, sexualisierter Gewalt und Ausbeutung möchte ich mein Mitgefühl aussprechen.
Dennoch zeigt sich hier bereits ein grundlegendes Kennzeichen von #PLURV, nämlich die Anrufung von Pseudo-Expert*innen. Norack mag Expertin für Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung sein, und sollte zu DIESEM Thema gehört werden.

Unter der Fragestellung „Sex gegen Geld“ ist sie als Expertin fehl am Platze, da ihr Schicksal eben nicht stellvertretend ist. Noracks Erzählungen sind geprägt von Abwertung und Pathologisierung sexarbeitender Personen. Geschickt verwebt sie Aussagen wie: „man denkt, man tut es freiwillig“, mit „kaputt / Wertlosigkeit / nur diese Prostituierte (sein)“. Es ist für mich schockierend, wie viel Abwertung und Stigma Norack reproduziert, eine generelle Pathologisierung aller sexarbeitenden Menschen nahelegt um ihr politisches Ziel der Freierkriminaliserung zu rechtfertigen. Über die Mechanismus dieser Pathologisierung habe ich woanders bereits geschrieben:

https://mademoiselleruby.com/2021/03/06/trauma/

Moderator Weber bereitet Norack eine Steilvorlage nach der anderen und das gipfelt in der Frage: „Wäre Ihr Schicksal anders verlaufen, wenn in Deutschland vor 20 Jahren wie Schweden die Freierkriminalisierung eingeführt hätte?“ Norack bejaht- sie und andere sprechen vom sog. NM, ein Begriff, der bereits per se Desinformation ist. Menschenrechtsverletzungen an Sexarbeiter*innen nach schwedischem Vorbild wäre die passendere Bezeichnung, das betone ich besonders, denn in der Sendung findet diese Frage nicht ein einziges Mal statt. Vollkommen unkritisch dürfen die Befürworter*innen der end-of-demand – Politik Werbung für ein Gesetz machen, dass die Menschenrechte von Sexarbeitenden mit Füßen tritt und Stigma Vorschub leistet.
Wir halten fest: 10 Minuten lang hat der Zuschauende keine kritische Frage gehört, ob das, was hier als Ist-Situation in der Prostitution beschrieben wird – nämlich Verbrechen, Zwang und Ausbeutung – tatsächlich als repräsentativ für eine ganze Berufsgruppe angesehen werden kann?

Stattdessen leitet Weber zu Julia Wege über. Wege ist als „Wissenschaftlerin“ in der Runde, doch auch sie ist eine Pseudo-Expertin. Ihr Redeanteil in der Sendung ist ziemlich klein, aber ihre Funktion ist zentral. Sie soll die Fiktion, dass Prostitution in Deutschland zu 90% Ausbeutung und Verbrechen ist, legitimieren und als Fakt darstellen. Doch ihre Sprache „Körper gegen Geld verkaufen“ / „ausländische Frauen“ und der Hinweis auf die Gesetzeslage verrät sie als Gegnerin der Sexarbeit. Wege leitet eine Beratungsstelle in Mannheim, die nicht Mitglied im BuFas ist. Sie hat in den letzten Jahren massiv Lobbyarbeit für die Freierkriminalisierung betrieben.

(In der Runde fehlt eine Person, die das sog. NM kritisch beleuchtet. Es gibt diese echten Wissenschaftlerinnen, verwiesen sei u.a. auf Susanne Dodillet.)

#PLURV ist Wissenschaftsleugnung und in dieser Eigenschaft sitzt Julia Wege in der Runde und darf unwidersprochen Rosinen picken und Logikfehler als Wahrheiten unters Publikum bringen.

Kurzer Schwenk zu John Heer. Er wird natürlich nicht zu seinem Alltag als Bordellbetreibender befragt, sondern soll die tendenziöse Frage beantworten: „Könnte so etwas, wie das Schicksal von Sandra Norack in Ihren Häusern nicht auch passieren?“ Er wird die Behauptung augestellt, dass Ausbeutung z.B. nach der Loverboy-Methode oder Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung die Norm in der Sexarbeit darstellen. Dieses Narrativ durchzieht wie ein Roter Faden die gesamte Sendung.
Weber hat sich aktiv dafür entschieden, dieses Narrativ zu pflegen. Es hätte immer wieder Gelegenheit gegeben, kritisch zu fragen, ob das wirklich die Realität ist, oder wie sich die Situation für Sexarbeitende in Ländern mit Freierkriminalisierung darstellt. Er unterlässt dies systematisch und muss deswegen scharf kritisiert werden. Skandale und schwere Schicksale wirken sich wohl positiver auf die Quote aus als eine Darstellung von Sexarbeit als coping-Strategie im Kapitalismus aus.

Heer versucht die Zahl „400.000“ herzuleiten, antwortet aber dann doch auf die Frage des Moderators. Im Hintergrund grinst Breimayer verächtlich. Heer kann es in diesem Setting nur falsch machen, denn es geht nicht um ihn, er ist als Token, als Feigenblatt anwesend für eine Werbeveranstaltung des SWR pro Freierkriminalisierung.
Weber holt Judith Skudelny ins Gespräch: Er fragt sie, wie die Gesetze durchgesetzt werden könnten, die es ja bereits gibt? Vergesst bitte nicht: Die Grundlage für Webers Frage ist: 90% dessen, was in der Prostitution stattfindet ist ungesetzlich, ausbeuterisch und Verbrechen. Das hat er nie in Frage gestellt, und deswegen kann Skudelny auch so viel von Differenzierung und Stigma reden, wie sie möchte. Es verpufft. Hängen bleibt bei mir: Auch sie bemüht Metaphern wie Licht und Dunkel und auch sie greift die Symbolik des Ausstiegs auf.

Als Nächstes leitet Weber zu Breimayer über. Im Verhältnis zu Skudelny erhält sie die dreifache Redezeit. Sie nutzt sie, um die Illusion zu erzeugen, dass es in Deutschland keine Angebote gäbe, die Sexarbeitende mit Umstiegswunsch beraten. Breimayer versucht so, den Begriff des Ausstiegs zu vereinnahmen. Das bleibt natürlich unwidersprochen, obwohl Fachberatungsstellen bereits Jahrzehnte Konzepte und Wege erarbeiten, wie ein Umstieg gelingt. Denn diese Fachberatungsstellen im BuFas, zu denen Weges Fachberatungsstelle nicht zählt, wissen: Der Grund für Schwierigkeiten beim Umstieg sind nicht, wie Breimayer es darstellt, vorrangig verbrecherische Strukturen, sondern Stigma und Diskriminierung von Huren. Natürlich passt das der SPD-Politikerin nicht ins Konzept, denn sie ist als Figur untrennbar mit der Forderung einer „Welt ohne Prostitution“ verbunden. Für andere politische Inhalte ist Frau Breimayer der Öffentlichkeit gar nicht bekannt. Die politische Karriereleiter ist sie die letzten Jahre lang auf dem Rücken von Sexarbeiter*innen hinaufgestiegen, deren Existenz sie leugnet und deren Lebensrealität sie bekämpft.

Ein seltener Moment, in dem in den Desinformationen der Pseudo-Expertin Breimayer ein Körnchen Wahrheit steckt, ist dieser: Viele Menschen in der Prostitution fielen durchs Raster sozialer Sicherungssysteme, gerade auch in der Pandemie. Unerwähnt lässt sie, dass ihre Partei seit Jahren bei Angriffen auf Sozialleistungen ganz vorn mit dabei ist. Dass bösartige Migrationsregime, die Menschen Aufenthaltsrechte, Krankenversicherung und legales Arbeiten versagen, massiv von der SPD mitgestaltet werden. Nichts sagt Breimayer zu Armut, Ausbeutung und den Bedingungen für Arbeitsmigration in reiche Länder wie Deutschland. Sie belässt es wissentlich und absichtlich bei der Mär von der prostitutionsfördernden Gesetzgebung. Breimayer sagt als Erste klipp und klar: Selbstbestimmung und Freiwilligkeit seien die absolute Ausnahme. Kein Widerspruch. Es wird nicht hinterfragt, wie freiwillig denn Lohnarbeit im Kapitalismus sein kann? Waum diese „Unerfüllbare Erwartung“ (#PLURV) überhaupt isoliert an die Sexarbeit gestellt wird?

Stattdessen leitet Weber zu Salome Balthus über. Wie John Heer kann auch sie in dieser prädisponierten Runde nur verlieren. Sie wird als Ausnahme hingestellt und soll Alternativen für einen Status Quo aufzeigen, den sie nicht zu verantworten hat. Weder ist es Balthus‘ Versäumnis in keiner Zwangslage zu sein, noch würde sie dem Narrativ zustimmen, dass 90% der Menschen in der Prostitution unter Zwang ausgebeutet werden und somit Opfer von Verbrechen sind. Das wird sie aber absichtlich nicht gefragt. Das Othering funktioniert so: Weber formuliert es so: „Anders als Sie leiden viele Frauen unter Zwang bis hin zum Tode“. Ich finde keine andere Beschreibung für diesen Satz als niederträchtig.

Auf Balthus folgt Ex-Polizist Manfred Paulus, der seit 2003 (!) pensioniert ist. Ein weiterer Pseudo-Experte, der nicht über „Sex gegen Geld“ insgesamt Bescheid weiß, sondern über Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Weder kennt er die Verhältnisse in der Sexarbeit vor 2003 noch danach, denn als Kriminalkommissar hat er stets in Verbrechen ermittelt. Paulus hat ein Lieblingswort: „Sexsklaverei“. Weber fragt ihn: „Wieso gibt es trotz Gesetze gegen Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Zuhälterei Geschichten wie die von Sandra Norack? Warum können wir diese Gesetze nicht so anwenden, dass es dieses Leid nicht gibt?“ Eine selten unsinnige Frage, die Weber dort formuliert hat. Viele Dinge sind verboten und existieren trotzdem. Das Problem an Webers Moderatorenrolle ist aber nicht, dass er blöde Fragen stellt, sondern, dass er dabei hilft Desinformation zu verbreiten.

(Kurzer Einschub: Für die bessere Anschaulichkeit ein Beispiel. Bewirken die Korruptionsfälle in der CDU einen Generalverdacht aller Politiker*innen dieses Landes, korrupt zu sein? Hier sprechen wir über eine soziale Gruppe, die über Macht und Einfluss, sowie finanzielle Kraft und mediale Aufmerksamkeit verfügt. In dieser Frage wird seit Wochen erzählt, es handele sich um Ausnahmen oder Einzelfälle. Bei der Sexarbeit existieren diese Hemmungen zur Verallgemeinerung nicht: Pauschale Rückschlüsse auf alle Sexarbeitenden, ohne sich auch im Mindesten mit den Voraussetzungen der Sexarbeitenden zu beschäftigen oder diese zu thematisieren, ist mittlerweile fast Standard.)

Paulus ist ein sehr problematischer Diskutant, der auch noch offen xenophob daherreden darf. 90% der Personen in der Prostitution seien „Ausländer“ aus Nigeria, Osteuropa, Balkan, Südostasien. Die Zahlen bestätigen das so nicht, aber das ist Paulus vollkommen gleichgültig. Ihn interessieren auch nicht die Bedingungen in jenen Ländern, die zur Arbeitsmigration führen, sondern lediglich, dass dadurch Deutschland zum Bordell Europa wurde.
Hier wird offenbar, dass es nie darum ging, zu verstehen, welche gesamtgesellschaftlichen Gründe zu Arbeitsmigration in eines der reichsten Länder führen, sondern es geht darum, diese zu verhindern, indem durch Kriminalisierung der Kunden die Nachfrage unterbunden wird. Jemand wie Weber hat kein Interesse zu fragen, was zu sozialer Ungleichheit geführt hat oder welche Verantwortung Länder wie Deutschland dafür tragen? Hier geht es um Symptombekämpfung, um „Rettung“. Dafür braucht es Menschen wie Weber und den SWR, die Narrative zementieren, Desinformation verbreiten und Aktivist*innen wie Norack, Breimayer, Wege und Paulus eine Bühne bieten. Mit Journalismus und Ethik hat das längst nichts mehr zu tun. (Ende Teil 1)

Das PLURV-Prinzip

Wie PLURV der Sexarbeit schadet

Was die politischen Diskussionen über Klimakrise, Corona und Sexarbeit verbindet

Für die Aktivist*innen gegen die Klimakrise ist es ein alter Hut, denn sie sind ständig mit der falschen Darstellung von Fakten über die Erderwärmung im politischen und medialen Raum konfrontiert. Sie haben auch als Erste das PLURV-Prinzip beschrieben.

PLURV steht als Akronym für
Pseudo – Expert*innen,
Logikfehler,
Unerfüllbare Erwartungen,
Rosinen – Pickerei und
Verschwörungserzählungen.

Doch nicht nur bei diesem Thema greift das Prinzip der Desinformation: Auch die Pandemie-Politik der deutschen Regierung wurde kürzlich von führenden Wissenschaftler*innen scharf kritisiert. Im NDR-Podcast Corona-Virus Update brachte Professor Christian Drosten am 30.03. den Begriff PLURV in Verbindung mit Wissenschaftsleugnung auf.
Seit letzten Herbst hat der Einfluss der Wissenschaft auf die Coronapolitik in Deutschland massiv nachgelassen. Warnungen der Virolog*innen und Modellierungen der Epidemiolog*innen werden ignoriert und führende Wissenschaftler*innen bezeichnen das Management der COVID19-Pandemie als „wissenschaftsleugnend“.

Während Klimakrise und COVID19-Pandemie die zentralen, globalen Fragen der Menschheit betreffen, ist Sexarbeit ein gesellschaftliches Randthema. Umso frappierender, dass sich auch dort die schädliche Desinformation durch PLURV breit gemacht hat und sich fatal auf marginalisierte Sexarbeitende auswirkt.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit vergleicht dieser Text die Wirksamkeit des PLURV-Prinzips in der aktuellen politischen Diskussion zweier Phänomene, die auf dem ersten Blick wenig gemein haben:


Die COVID19-Pandemie und Sexarbeit

Wie Politik und Medien COVID19 verhandeln, ist seit Beginn der Pandemie mehrfach von Wissenschaftlern, darunter Christian Drosten, scharf kritisiert worden.
Christian Drosten verwendete den Begriff Verschwörungsmythen, den ich hier durch Erzählungen ersetze.

Der Vergleich zwischen der Pandemie und Sexarbeit hinkt immer dort, wo Sexarbeit weder gut erforscht noch durch belastbare Zahlen dokumentiert ist. Deswegen kann es in diesem Text nur um einen strukturellen Vergleich der Wirkprinzipien von PLURV auf die Felder Sexarbeit und Pandemie geht.

Meine Expertise liegt eindeutig bei der Analyse der Auswirkungen von Framings der Sexarbeit durch Politik und Medien. Deswegen umreiße ich im Folgenden kurz, wie Drosten sehr zutreffend die Anwendung vom PLURV – Prinzip auf die Pandemie beleuchtet und  biete danach eine mögliche Übertragung auf die Sexarbeit an.

Pseudo – Expert*innen

Fachfremde Personen wie Wodarg oder Bhakdi, aber auch die Unterzeichnenden der Great Barrington Declaration können als Pseudo – Expert*innen in der Coronapandemie angesehen werden. Ihre Akzeptanz in wissenschaftlichen Kreisen ist unterdurchschnittlich bis gering. Doch mittels false balance berichten die Medien nahezu gleichberechtigt und in neutralem Ton über diese Randpositionen, denen es häufig an wissenschaftlicher Belegbarkeit fehlt.

In der Sexarbeit ist es ganz ähnlich: Nicht selten treten selbsternannte Expert*innen wie Breimayer, Schönborn oder Schoß forsch für eine Welt ohne Prostitution, Freierkriminalisierung und gegen Sexarbeit auf. Sie fordern ganz selbstverständlich mediale und politische Aufmerksamkeit und erhalten sie auch für die Verbreitung ihrer tendenziösen, nicht haltbaren Zahlen und Meinungen. Die Medien und auch die Politik hört ihnen zu, bietet ihnen eine Bühne und Plattform und konfrontiert so Sexarbeitende, die sich politisch oder medial äußern, fortwährend mit Pseudo – Expert*innen.

Logikfehler

Drosten holt hier aus, und siehe da, alle Strategien und Spielarten der Logikfehler lassen sich auch in der Sexarbeit nachweisen. Doch bleiben wir zunächst bei der Pandemie:
Das Ad hominem Argument benutzte der Philosoph Jörg Phil Friedrich am 24.03.20 in der WELT gegen u.a. gegen Viola Priesemann. Ohne auf die Details einzugehen, fasse ich das mal so zusammen: Ohne epidemiologische Sachkenntnis fand dort eine verbale Attacke der Verunglimpfung statt.

Wo begegnet uns das in politischen und medialen Stellungsnahmen über Sexarbeit?
Bingo, auch hier landen wir sofort mehr Treffer als ich aufführen kann: Die 3Sat-Produktion „Prostitution – Kein Job wie jeder andere“ benutzt zwei Personen, die sich aktivistisch für die Rechte von Sexarbeiter*innen einsetzen, und präsentiert sie in einem wenig schmeichelhaften, unseriösen Licht. Die Zitate wurden so geschnitten, dass nur Gemeinplätze statt echter Argumente übrigblieben. Zudem ordnete der Beitrag die beiden Sexarbeiterinnen mit den Worten ein, dass solche Personen, das Bild von Prostitution in den letzten 20 Jahren maßgeblich (und verfehlt, so die Implikation) geprägt hätten. Dies ist nur ein Beispiel unter vielen persönlichen Attacken von Politiker*innen und Medienschaffenden, die sich durch Skandalisierung und nicht Sachkenntnis auszeichneten.

Als Nächstes geht Drosten auf irreführende Analogien ein, zum Beispiel die nicht enden wollenden Vergleiche Grippe – COVID19. Außerdem benennt er mehrdeutige Begriffe, wie „mit dem Virus leben lernen“ und die „Dauerwelle“.
Die angesprochenen, unzutreffenden Analogien, wie z.B. SARS-COV2 und die Grippeviren, leiten die Öffentlichkeit immer wieder fehl und spielen, so meine Interpretation, vor allem Populist*innen in die Hände.
Bei den Mehrdeutigkeiten ist es etwas komplexer: Wo „mit dem Virus leben lernen“ zum komplett falschen Zeitpunkt in die Debatte um Lockerungen/Öffnungen eingepreist wird, verharmlost es die aktuelle hohe Gefährlichkeit der 3. Welle. Die „Dauerwelle“ ist ein reiner Kampfbegriff, der keinerlei Bedeutung in der Infektionsepidemiologie besitzt, sondern ins Friseurhandwerk der 80er und 90er gehört.

Die Sexarbeit wird politisch und medial andauernd in einen Topf mit Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung geworfen. Dabei lassen sich beide Begriffe gut trennen: Sexarbeit bezeichnet eine Dienstleistung, die auf einer Übereinkunft beruht, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung dagegen ein Verbrechen, das per se unter Zwang abgetrotzt wird.

Ein gutes Beispiel für Mehrdeutigkeiten ist der Begriff „Schwedisches Modell“. Ich benutze diesen beschönigenden Begriff nicht und rate ab, ihn argumentativ zu führen. Speziell in Deutschland haben wir ein sehr positives Bild von Schweden: Mittsommer, IKEA und faire Löhne sind nur 3 Schlagworte, die in deutschen Köpfen beim Gedanken an Schweden kreisen. Doch das sog. „Modell“ ist eine Mogelpackung: Durch die Freierkriminalisierung, die vorgibt, das Wohl von Sexarbeitenden zu verfolgen verschlechtert die Lebensbedingungen von Sexarbeitenden in Schweden seit Jahrzehnten. Wer mehr über Lebensrealitäten von Sexarbeitenden in Schweden wissen will, der informiere sich bei Red Umbrella Sweden.
Ein „mit dem Virus leben lernen“ der Sexarbeit ist die Vorstellung, dass mehr Kontrollen und Strafen die Arbeitsbedingungen von Sexarbeitenden verbessert würden. Oder dass die gesetzliche Forderung von Mindestalter und Krankenkassenpflicht unter Sexarbeitenden, wie jüngst von CDU und CSU gefordert, sich positiv auf jene unter 21 jährigen Menschen ohne Krankenkasse in Deutschland auswirken würde. Zu oft prekären Verhältnissen gesellt sich die Kriminalisierung.

Unerfüllbare Erwartungen

Professor Drosten benennt unter anderem das Präventions-Paradox, das sich dadurch auszeichnet, dass der Wissenschaft bei wirksamen Interventionen am Ende vorgehalten wird, dass es ja so schlimm gar nicht gekommen sei und somit übertriebene Prognosen oder gar Panikmache im Raum gestanden haben.

Eine unerfüllbare Erwartung in Bezug auf Sexarbeit ist zum Beispiel die Idee, dass das Phänomen Sexarbeit kurierbar wäre ohne die Voraussetzungen für den Einstieg in die Sexarbeit – also gesellschaftliche Ungleichheit, Armut und Ausbeutung im Spätkapitalismus – zu analysieren. Hier isolieren Medien und Politik sehr gern den Kosmos Sexarbeit und bewerten diese moralisch, ohne auch nur einen Wimpernschlag lang soziale und ökonomische Faktoren zu berücksichtigen oder sogar zu hinterfragen.

Rosinen – Pickerei

Christian Drosten wählt hier das anschauliche Beispiel der Rolle von Kindern in der COVID19-Pandemie. Ganz isoliert wählen Politik und Medien stark verkürzte Befunde aus, und verallgemeinern diese dann. Zum Beispiel: Kinder spielen in der Pandemie doch keine Rolle! Daraus werden Forderungen nach Schulöffnungen, auch ohne Impf- und Teststrategie, abgeleitet. Fatal, dabei berufen sich Medien und Politik oft genug noch auf die Wissenschaftler*in, deren Zitat sie zuvor aus dem Zusammenhang gerissen haben.

Für die Sexarbeit ist eine solche Rosinen – Pickerei die sog. Farley – Studie, mit der medial wie politisch ebenso rentitent wie unzutreffend ein Zusammenhang zwischen Missbrauch, Gewalt und Sexarbeiter*innen hergestellt wird. Sexarbeiter*innen wird geradezu zwingend eine PTBS-Diagnose angedichtet. Diese Pathologisierung entmündigt Sexarbeitende und verschleiert strukturelle Gewalt und Sexismus. Die Studie weist große Ungenauigkeiten und Fehler auf und gilt in Fachkreisen mittlerweile als widerlegt. Und doch führen Medienschaffende und Politiker*innen sie ungehemmt an, und sprechen damit Sexarbeitenden ab, zu wissen, was gut für sie ist.

Verschwörungserzählungen

Ich greife hier nur ein Beispiel unter vielen auf, das Drosten in Bezug auf die Verschwörungserzählungen in der COVID-19 – Pandemie angibt: Die Mär vom opportunistischen Profitieren einzelner Wissenschaftler*innen dient einzig und allein dazu, diese Personen zu diskreditieren. Dabei wird unterstellt, die Wissenschaftler*innen bereicherten sich an Tests oder Impfungen.

Same same in der Sexarbeit: Politik und Medien konfrontieren Sexarbeitende immer wieder mit der Verschwörungserzählung einer Prostitutionslobby. Aktivistische Sexarbeiterin werden so ge-andert. Damit einher geht die Absicht, ihre Stimme unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Zusammenhanglos hinterfragen Politiker*innen und Medienschaffende die Privilegien der Person, und sie wird als Profiteur*in hingestellt.
Richtig ist, dass gerade im Aktivismus Privilegien eine Rolle spielen, wenn es um Präsenz und Zeit geht, die Kontakte zu Politik oder Medien erst ermöglichen. Umso verwerflicher ist es diesen Akteur*innen ihr Engagement anzukreiden. Natürlich ohne zu hinterfragen, welche Voraussetzungen politische Arbeit oder Medienpräsenz besitzen…

PLURV ist ein Analyse-Tool, das Desinformation sichtbar macht: Kein Wunder also, dass SWERFS/TERFS (sexword /trans excluding so-called radical feminists) nutzen oft genau diese Methoden, um Stimmung gegen marginalisierte Gruppen zu machen.